„Eine freie Kirche in einer freien Gesellschaft“: Der BEFG in den Jahren 1975–1985 (Folge 9/12)
- Traktat Eine freie Kirche in einer freien Gesellschaft
„Eine freie Kirche in einer freien Gesellschaft“ — so lautete der Titel eines Traktats, mit dem die Gemeinden in dieser Zeit für sich warben.
Die Gemeinden hatten seit Beginn der 70er Jahre einen ausgesprochenen Modernisierungsschub durchgemacht. Das Sekten-Image sollte endgültig der Vergangenheit angehören.
Der Zeitabschnitt wurde eingerahmt von zwei bedeutenden internationalen Ereignissen, die auch direkten Bezug zum deutschen Bund hatten:
1975 war es der Baptistische Weltkongress in Stockholm. Ein Teil der deutschen Teilnehmer fuhr unter Leitung von Harold Eisenblätter mit einem gecharterten russischen Passagierschiff zum Kongress.
Dieser Kongress blieb der bisher einzige Weltkongress, bei dem die Jugend ein ganzes Abendprogramm gestaltete. Hauptredner an dem Abend war Karl Heinz Walter. Die für Deutschland wichtigste Entscheidung war die Wahl von Gerhard Claas zum Generalsekretär der Europäischen Baptistischen Föderation.
1976 trat er den Dienst an und holte das EBF-Büro nach Hamburg. 1980 wurde Gerhard Claas dann Generalsekretär des Baptistischen Weltbundes.
1984 fand in Hamburg der Kongress der Europäischen Baptistischen Föderation (EBF) statt, zusammen mit dem 150jährigen Jubiläum des deutschen Bundes. Noch war es so, dass aus allen Ländern des Ostblocks nur offizielle Delegationen kommen konnten, die alle unter starkem politischen Druck standen und z.T. auch bestimmte politische Aufträge zu besonderen Erklärungen hatten.
Zwei Ereignisse aber bestimmten das Geschehen. Einmal war das der Tod eines jungen Engländers, der beim EBF-Jugendcamp in Mölln beim Schwimmen ertrank. Zum anderen war es die „Schulderklärung des deutschen Bundes zum Verhalten im Dritten Reich“ auf die viele von uns lange gewartet hatten.
Sie fand eine bewegende Resonanz und verbreitete sich blitzschnell weltweit.
Wichtige Ereignisse prägten dieses Jahrzehnt im Bund:
1975 die Eröffnung des Centre Technique in Maroua, die Gründung des Verbandes freikirchlicher Diakoniewerke und der Beginn einer neuen Serie von Bundesjugendtreffen in Leverkusen.
1977 war das erste BUJU auf Burg Feuerstein. 1977 nahm der Bundesrat in Nürnberg die „Rechenschaft vom Glauben“ offiziell entgegen. Die Gemeindebibelschule wurde eingeführt.
Außerdem wurde das neue Bundesmissionshaus eingeweiht. Jubiläen wurde immer wieder gefeiert:
150 Jahre Oncken Verlag 1978; 1980 100 Jahre Theologisches Seminar und vor dem EBF-Kongress in Hamburg feierte der Bund in der DDR das 150 jährige Jubiläum des Baptistenbundes in Deutschland.
Personelle Änderungen in Leitungsfunktionen:
- 1975 ging die Leitung des Jugendseminars von Harry Dörr auf Wilhelm Gerwig über. Edwin Brandt sen. wurde Präsident des Bundes im Westen und Herbert Morét Präsident des Bundes in der DDR.
- 1976 wurde Siegfried Kerstan in der Nachfolge von Gerhard Claas Bundesdirektor. Nach dem plötzlichen Tod von Edwin Brandt wurde Walter Zeschky Präsident des Bundes im Westen. Der langjährige Direktor des Theologischen Seminars, Hans Luckey, starb auch in diesem Jahr.
- 1978 wurde Uwe Kühne Leiter des Gemeindejugendwerks in Nachfolge von Karl Heinz Walter.
- 1980 wurde Arnim Riemenschneider Leiter der Bibelschule Wiedenest, was schon eine bemerkenswerte Entscheidung war, einen Baptisten zu berufen.
- 1981 wurde Manfred Sult Präsident des Bundes in der DDR.
- 1983 wurde Günter Hitzemann Präsident des Bundes in der Bundesrepublik. Auch in der Leitung der EBM gab es einen Wechsel. Helmut Grundmann übergab die Verantwortung als Generalsekretär der EBM an Horst Niesen.
1985 erkrankte Siegfried Kerstan schwer und musste seinen Dienst als Bundesdirektor vorzeitig beenden An seine Stelle wurde im gleichen Jahr Gerd Rudzio berufen.
Es gab einige Fragestellungen, die in dieser Zeit die Bundesleitung und die ganze Bundesgemeinschaft beschäftigten und gelegentlich zu polarisierenden Diskussionen in den Gemeinden führten:
1977 veröffentlichte die Bundesleitung ein Papier zur Gruppendynamik und warnte vor deren Anwendung in den Gemeinden.
- Eduard Schütz (1928-2001)
Die charismatische Bewegung fand auch in den Bundesgemeinden viele Anhänger. Dies schlug sich 1978 in der Gründung des Arbeitskreises „Charisma und Gemeinde“ nieder.
1980 wurde der Arbeitskreis PRO VITA ins Leben gerufen als Antwort auf die öffentliche Diskussion um die Abtreibung. Die insbesondere seit dem NATO-Doppelbeschluss von 1979 wachsende Friedensbewegung fand auch bei vielen Baptisten Unterstützung.
1983 wurde die „Initiative Schalom“ zur Koordination evangelisch-freikirchlicher Friedensaktivitäten gegründet — während andere Gemeindemitglieder von einer Unterstützung der Friedensbewegung nichts wissen wollten. Eine heftige Debatte entbrannte über ein Dokument von Eduard Schütz, der in Nachfolge von Rudolf Thaut seit 1978 Direktor des Theologischen Seminars in Hamburg war. An Schütz’ Äußerungen entzündete sich eine - ohnehin längst latente - Kontroverse um das Schriftverständnis, die sich an der Frage nach der Interpretation der neutestamentlichen Aussagen über die Jungfrauengeburt zuspitzte.
Der Streit führte zu einer heftigen Diskussion beim Bundesrat in Dortmund 1985. Schütz wurde beurlaubt, die Leitung des Seminars wurde — zunächst kommissarisch — Edwin Peter Brandt übergeben.
Dass die „freie Kirche in einer freien Gesellschaft“ auch eine freiheitliche Konfliktkultur erfordert, zeigte gerade der Verlauf dieser Auseinandersetzung.
Karl Heinz Walter DD (Hamburg)