175 Jahre Baptistengemeinden in Deutschland: Das baptistische Milieu vom 1. Weltkrieg zur Weimarer Republik / 1914-1933 (Folge 4/12)
- Wagenmission mit Friedrich Sondheimer 1929
„Ich kenne keine Parteien mehr, kenne nur noch Deutsche!“ Mit diesen Worten begeisterte Wilhelm II. im August 1914 selbst viele der sonst oppositionellen Arbeiter für seinen Krieg.
Religiöse Minderheiten wie Juden und Freikirchen sahen im Krieg die große Chance, sich als Deutsche unter Deutschen zu bewähren und sich vom Makel des Andersseins reinzuwaschen.
Viele Baptisten verstanden den Krieg zudem als Möglichkeit zur Mission und zogen mit speziellen Traktaten ins Feld. Doch statt der Erweckung folgte bis 1918 eine Serie erbärmlicher Gemetzel.
Auf den Schlachtfeldern ging das alte Europa für immer unter.
Die religiösen Legitimationssysteme Alteuropas ― Habsburgs Katholizismus, Preußens Protestantismus und Rußlands Orthodoxie ― gingen aus dem Krieg moralisch diskreditiert hervor und verloren mit dem Zusammenbruch der Monarchien ihre traditionellen Funktionen.
In Deutschland setzte 1919 ein Kampf um den Öffentlichkeitscharakter der Großkirchen ein, den diese durch ihr Beharren auf staatskirchenrechtlichen Privilegien sicherzustellen suchten.
Der neuen demokratischen Ordnung standen am ehesten noch die Katholiken konstruktiv gegenüber. Sie hatten in ihrer langen Auseinandersetzung mit der preußisch-protestantischen Vorherrschaft die Möglichkeiten parlamentarischer Repräsentation zu schätzen gelernt und besaßen mit dem Zentrum eine starke Volkspartei.
Viele Protestanten nahmen dagegen die Republik als Zumutung und als Staat ohne göttliche Legitimation wahr. Auf zaghafte Versuche liberaler und linker Politiker, die Landeskirchen in eine quasi freikirchliche Selbständigkeit vom Staat zu entlassen, reagierte das konservativ-erweckliche Lager mit einer Diffamierungskampagne.
Die suggestiv formulierten Warnungen vor den „gottlosen“ Politikern verfehlten auch bei den Freikirchen nicht ihre Wirkung. Paradoxerweise galten daher Politiker, die einen religiös neutralen Staat forderten, bei vielen Baptisten als nicht wählbar.
- Traktat von 1924
Das Entsetzen über den antikirchlichen Terror in der Sowjetunion nährte — obwohl man einige Anliegen der Sozialdemokratie teilte — ein pauschales Mißtrauen gegenüber der Linken. Politische Kommentare in baptistischen Zeitschriften der Weimarer Republik lassen eine Sehnsucht nach einem gottgesandten Führer erkennen. Die Vorbehalte gegenüber der Demokratie trieben die Baptisten zwar nicht scharenweise in die Arme der durch Deutschland trommelnden und stampfenden Nazis ― Parteieintritte von Baptisten waren selten ―, verführte aber viele zu hoffnungsvollen Erwartungen bei Hitlers Machtergreifung.
Während die Chancen, die die Demokratie bot, von den Baptisten nicht voll erkannt wurden, sah man die weithin empfundene religiöse Entwurzelung nach 1918 ― wieder einmal ― als missionarische Aufgabe. Die häufigen Gemeinde- und Wagenevangelisationen fanden einigen Anklang. Wirklich am Puls der Zeit waren die Gemeinden dennoch nicht. Der „weltanschauliche“ und kulturelle Reformdiskurs der Weimarer Zeit bewegte die Gemeinden durchaus, fand aber letztlich wenig Resonanz.
Als Gemeindemitglied war man voll ausgelastet und gehörte in der Regel auch einem oder mehreren baptistischen Vereinen an, denn die Gemeinden boten kein „Programm“ an, sondern außer den zwei bis drei wöchentlichen vom Prediger geleiteten Versammlungen waren alle Gruppen und Aktivitäten als Vereine mit gewählten Leitern organisiert.
Wer irgend konnte, abonnierte eine oder mehrere baptistische Zeitschriften ― und bezog dementsprechend kaum andere Presseerzeugnisse.
Neumitglieder wurden in ein durch Verwandtschaft, Werte und Lebensformen gefestigtes konfessionelles Milieu integriert, das Identität und Geborgenheit bot, aber nicht für jedermann attraktiv war.
Übertritte aus dem Bildungsbürgertum blieben vereinzelt. Andererseits machte sich der soziale Aufstieg der Gemeinden bemerkbar. Sorgfältig führte der Bund Statistik über die allmählich steigende Zahl der Studenten und Akademiker. Wer als Baptist an einer Universität studierte, hörte oft neben seinem Fach auch theologische Vorlesungen, um sich für die Mitarbeit in der Gemeinde zu rüsten.
Konservativ-erweckliche Universitätstheologen wie Adolf Schlatter und Karl Heim erfreuten sich bei den Baptisten hohen Ansehens. Die Prediger kamen aber nach wie vor ganz überwiegend vom Hamburger Seminar.
Unter den Seminaristen gab es viele Auslandsdeutsche und Osteuropäer. Zahlreiche Absolventen folgten ohne Zögern Berufungen in die deutschsprachigen Gemeinden in Osteuropa. Auch in Nord- und Südamerika gab es deutschsprachige Vereinigungen, die in Verbindung mit dem deutschen Bund standen. Das „baptistische Milieu“ mag in mancher Hinsicht eng gewesen sein. Der Missionseifer eröffnete den Baptisten aber gleichzeitig einen Blick auf die Welt:
„So war auch deutscher Baptismus keine nationale Enge, sondern christusgemäße Weltweite“ (Max Slawinsky 1930).
Martin Rothkegel (ThS Elstal)