175 Jahre Baptistengemeinden in Deutschland: Die wachsende baptistische Bewegung in Europa / 1859-1884 (Folge 2/12)
- Julius Köbner
- Deckblatt: Köbner Manifest
Auch die zweiten fünfundzwanzig Jahre des deutschen Baptismus waren immer noch in vieler Hinsicht geprägt von der Generation der Gründer.
Neben Johann Gerhard Oncken sind Gottfried Wilhelm Lehmann (1799-1882) und Julius Köbner (1806-1884) als „ordnende Brüder“ des Bundes zu nennen.
Der Berliner Lehmann kam 1837 über den lutherischen Pietismus und das Umfeld der Herrnhuter Brüdergemeine zum Baptismus. Energisch und geschickt setzte sich Lehman gegen die Repressalien ein, mit denen der Staat jahrzehntelang die Gemeinden behinderte.
Lehmann gehörte zu den Mitbegründern der Evangelischen Allianz in Deutschland.
Köbner war der Sohn eines dänischen Rabbiners und kam 1836 zur Gemeinde, nachdem er zehn Jahre zuvor zum Christentum konvertiert war. Ihm sind zahlreiche Lieder, Traktate und Dichtungen zu verdanken, aber auch die erste deutsche Übersetzung der Schrift „Augenblick“ des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard, in dessen Hinterfragung des bestehenden Christentums Köbner Gemeinsamkeiten mit der baptistischen Kritik am Staatskirchentum sah.
Die Zusammenarbeit des „Kleeblatts“ Oncken-Lehmann-Köbner zerbrach 1871 im „Hamburger Streit“: In Altona hatte sich gegen den Willen Onckens eine selbständige Gemeinde konstituiert.
Oncken beanspruchte die Autorität eines gemeinsamen Ältesten aller Bundesgemeinden.
Im Bund setzte sich mit Lehmanns und Köbners Unterstützung das Prinzip der Selbständigkeit der Ortsgemeinde durch.
Erst 1876 kam es zu einer Versöhnung. Die Gemeinden wachten streng über den Lebenswandel der Mitglieder. Ausschluss wegen „Fernbleiben von der Versammlung“ oder „Sabbatfrevel“ war nicht selten ― das intensive Gemeindeleben und die strikte Sonntagsheiligung gaben den Rhythmus für das Familienleben vor.
Freizeitvergnügungen wie Theaterbesuche, Tanz und Kartenspiel waren verpönt.
- Gottfried Lehmann
Wissenschaft, Kunst und Kultur um ihrer selbst willen galten nicht als erstrebenswerte Güter. Auf der anderen Seite war gerade die Gemeinde der Ort, an dem viele Begabungen geweckt und gefördert wurden, sofern sie etwas zum Wohle der Gemeinde beitragen konnten.
Das Musizieren stand in hohem Kurs. Menschen aus bildungsfernen Schichten wurden zu eifrigen Lesern, um über ihren Glauben Rede und Antwort stehen zu können.
Vielleicht mehr als die organisatorischen Strukturen des Bundes haben das Singen und das Lesen zu Identität und Zusammenhalt der Baptisten über die einzelne Ortsgemeinde hinaus beigetragen.
Das gemeinsame Liedgut begleitete die Gemeindemitglieder ein Leben lang und verband die Generationen.
Die in hohen Auflagen gedruckten Traktate und Andachtsbücher setzten in den Gemeinden Akzente in Lehre und Frömmigkeit.
Dazu kamen später Zeitschriften (seit 1879 erschien der „Wahrheitszeuge“, Vorläufer der „Gemeinde“), durch die die Bundesgemeinschaft zu einer kleinen baptistischen „Teilöffentlichkeit“ wurde.
Vieles von dem, was damals in den Gemeinden gelesen wurde, ist heute vergessen, teils zu Recht, teils zu Unrecht. Einige Titel erwiesen sich langfristig als „Klassiker“, etwa die Predigten des baptistischen Star-Predigers Charles H. Spurgeon in London, der 1867 sogar zur Einweihung der neuen Hamburger Kapelle nach Deutschland reiste.
Aus dem frühen Schrifttum der deutschen Baptisten ragt ein kleiner Text hervor, Julius Köbners „Manifest des freien Urchristenthums“ aus dem Revolutionsjahr 1848.
Köbner sprach dort das aus, was im englischen und amerikanischen Baptismus von jeher selbstverständlich war, nämlich dass Freikirchentum immer auch mit der Verwirklichung einer freien Gesellschaft zu tun hat.
Im deutschen Baptismus trat der freiheitliche Geist des Köbnerschen Manifestes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder in den Hintergrund, insbesondere angesichts neuer Freiheiten, die die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 brachte.
Der Neuanfang des Oncken-Verlags in Kassel 1878 und die Eröffnung des Predigerseminars in Hamburg 1880 waren Zeichen dieser neuen Zeit.
Prof. Dr. Martin Rothkegel Theologisches Seminar (FH) Elstal / Gemeinde Berlin-Wedding
(Abdruck mit freundlicher Genehmigung des BEFG; wird fortgesetzt)